„Ich bin ständig auf der Suche nach Künstler:innen, deren Geschichten noch nicht erzählt oder unterschätzt wurden“
Collector's Interview | Michał Borowik

Was vor 20 Jahren mit einem Zufallsfund neben einem Müllcontainer begann, hat sich zu einer beeindruckenden Sammlung von rund 500 Werken entwickelt. Darüber hinaus fördert der polnische Sammler und Kurator Nachwuchstalente aus Zentral- und Osteuropa und setzt sich für sozialpolitische Anliegen ein. In diesem Interview erzählt er über seine inspirierende und bereichernde Reise in die Welt der zeitgenössischen Kunst.
Michal Borowikvor Werken von Janina Kraupe.
viennacontemporaryMag: Ihre Sammlung hat einen einzigartigen Anfang genommen. Können Sie uns davon erzählen und wie sie sich seit damals entwickelt hat?
Michał Borowik: Meine Reise als Sammler begann 2005 während eines Spaziergangs mit meinem Hund in meiner Heimatstadt Zamość. Dabei stieß ich auf Edward Dwurniks Gemälde aus der Serie Hitchhiking Journeys (1974), das neben einem Müllcontainer bei einer Wohnsiedlung lag. Dieser zufällige Fund weckte in mir eine tiefe Neugier auf Kunst und ihre Fähigkeit, in unerwarteten Kontexten Bedeutung zu schaffen. Mit der Zeit entwickelte sich mein Ansatz weiter – von intuitiven und spontanen Käufen hin zu einer durchdachteren und strukturierteren Praxis. Wie ich für eine meiner Ausstellungen schrieb: „Eine Sammlung zu schaffen ist ein kontinuierlicher Prozess – ein Aufbau, ein Erleben, das Überschreiten von Grenzen und der Blick über den Horizont hinaus.“ Heute umfasst meine Sammlung über 500 Werke und spiegelt mein persönliches sowie intellektuelles Engagement für zeitgenössische Kunst wider.
viennacontemporaryMag: Folgt Ihre Sammlung einem spezifischen Thema?
Michał Borowik: Meine Sammlung folgt keinem festgelegten Thema, sondern wird von tief persönlichen Kriterien und Intuition geleitet. Wiederkehrende Motive sind Erinnerung, Wahrnehmung und Identität. Mich fasziniert die Frage: „Wie viel können wir tatsächlich sehen, und wie weit reicht unser Blick?“ Mateusz Sadowskis Werk Looking to the End verkörpert diese Idee perfekt, indem es die Betrachter:innen ermutigt, über oberflächliche Erscheinungen hinauszusehen und die Grenzen der zeitgenössischen Wahrnehmung zu reflektieren. Meine Sammlung versucht auch, die Komplexität der Geschichte einzufangen, insbesondere die bewegte Kunstsammeltradition Polens. Oft frage ich mich: Welches Bild unserer Zeit werden wir künftigen Generationen hinterlassen?
Von Links nach Rechts: Agata Słowak, Sytuacja z niedźwiadkiem polarnym i liskiem [A Situation with a Polar Bear Cub and a Little Fox], 2023, oil on canvas, 110 x 80 cm; Gizela Mickiewicz, Fleeting Plans, 2023, 105×85×60cm; Lera Dubistkaya, Valentine, 2022, oil, crayons on paper, 11.5 x 14.8 cm; Tomek Kręcicki, Hypochondriac, 2022, oil on canvas, 120 x 160 cm
viennacontemporaryMag: Welche Künstler:innen begeistern Sie besonders?
Michał Borowik: Meine Sammlung konzentriert sich auf Kunst aus Mittel- und Osteuropa, insbesondere von Künstler:innen aus der Ukraine und Belarus wie Nikita Kadan, Kataryna Lysovenko, Veronika Hapchenko, Ala Savashevich und Lera Dubitskaya. Seit über zehn Jahren verfolge ich die Werke dieser Künstler:innen, die mich mit ihrer mutigen Auseinandersetzung mit kollektiver Erinnerung, Identität und kulturellem Erbe faszinieren – oft im Kontext bedeutender historischer Ereignisse. Nikita Kadans Arbeiten etwa untersuchen die komplexen Beziehungen zwischen Geschichte, Vergessen und Dekolonisierung und machen seine Kunst universell relevant.
Ebenso wichtig sind polnische Künstler:innen wie Kinga Burek, Wanda Czełkowska, Ewa Czwartos, Karolina Jabłońska und viele andere. Ihre Werke beeindrucken mich durch den Mut, Themen wie Identität, Beziehungen und emotionale Spannungen zu behandeln. Agata Słowaks Werke balancieren Intimität und Symbolik, während Wanda Czełkowska den Raum der Skulptur mit ihren minimalistischen und zeitlosen Formen neu definierte.
Karolina Jabłońska, Gotująca się głowa [Boiling Head], 2022, oil on canvas, 150 x 150 cm and Karolina Jabłońska, Grill [Barbecue], 2018, oil on canvas, 200 x 250 cm.
Was all diese Künstler:innen verbindet, ist ihre Fähigkeit, über oberflächliche Erzählungen hinauszugehen und eine tiefere Reflexion anzuregen. Ich bin ständig auf der Suche nach Werken von Künstler:innen, deren Geschichten noch nicht erzählt oder unterschätzt wurden, insbesondere von Frauen, die es verdienen, wiederentdeckt und anerkannt zu werden, wie Janina Kraupe-Świderska.
viennacontemporaryMag: Sie belassen es nicht beim Sammeln, sondern zeigen großes Engagement, um junge Kunst zu fördern.
Michał Borowik: Ja, ich unterstütze ich diese Künstler:innen aktiv in Polen durch Initiativen wie die Borowik-Stiftung und Polish Art NOW. Diese Plattformen bieten ukrainischen und belarussischen Künstler:innenn Raum, ihre Werke zu präsentieren, Dialoge anzuregen und ihre Visionen einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Ausstellungen wie From East to West und A Story from the Bottom of a Well waren entscheidend, um ihr Talent zu zeigen und auf ihre Herausforderungen aufmerksam zu machen.
viennacontemporaryMag: Gibt es spezifische Werke in Ihrer Sammlung, die für Sie herausstechen?
Michał Borowik: Edward Dwurniks Hitchhiking Journeys wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben, da es den Beginn meiner Sammlung markiert. Ein weiteres herausragendes Werk ist Mateusz Sadowskis Looking Through to the End, das Betrachter dazu herausfordert, ihren Blick in einer technikdominierten Welt zu erweitern. Ein bedeutsamer Moment war die Zusammenarbeit mit Nikita Kadan während des Warsaw Gallery Weekend 2024 – der Erlös aus dem Verkauf seiner Lithografien finanzierte die Schaffung einer Skulptur zur Erinnerung an den Krieg in der Ukraine. Jedes Werk in meiner Sammlung erzählt eine einzigartige Geschichte, die seinen Kontext und seine Bedeutung bereichert.
viennacontemporaryMag: Welche Rolle spielen Galerien, Kunstmessen oder direkte Beziehungen zu Kunstschaffenden in Ihrem Sammelprozess?
Michał Borowik: Direkte Beziehungen zu den Personen hinter den Werken stehen im Mittelpunkt meiner Sammelphilosophie. Ich möchte ihre Geschichten, Herausforderungen und Visionen verstehen. Galerien und Messen wie die viennacontemporary sind unschätzbare Plattformen, um Talente zu entdecken und den Dialog zu fördern. Veranstaltungen wie die viennacontemporary bieten exzellente Gelegenheiten, Perspektiven zu erweitern und vielfältige künstlerische Ausdrucksformen zu entdecken.
viennacontemporaryMag: Welche Rolle spielt zeitgenössische Kunst Ihrer Meinung nach in der heutigen Gesellschaft, und wie spiegelt Ihre Sammlung diese Sichtweise wider?
Michał Borowik: Ich sehe zeitgenössische Kunst als Spiegel und Kritik unserer Zeit. Sie reflektiert gesellschaftliche Ängste, Hoffnungen und Widersprüche und regt zum Dialog an. Meine Sammlung greift diese Herausforderungen auf, indem sie Themen wie Erinnerung, Wahrnehmung und Identität im Kontext von Überproduktion und technologischem Wandel erforscht. Initiativen wie Polish Art NOW verstärken diese Mission, indem sie Kunst zugänglicher machen und zu kritischer Reflexion anregen. Wie ich für eine meiner Ausstellungen schrieb: „Kunst hilft uns, über den Horizont dessen hinauszusehen, was uns gezeigt wird.“ Diese Überzeugung liegt meiner Arbeit als Sammler und Kurator zugrunde.
Nikita Kadan, Poeta I [Poet I], 2020, oil on canvas, 190 x 150 cm
viennacontemporaryMag: Welchen Rat würden Sie jemandem geben, der mit dem Sammeln zeitgenössischer Kunst beginnen möchte?
Michał Borowik: Vertrauen Sie Ihrer Intuition und finden Sie heraus, was Sie wirklich bewegt. Sammeln bedeutet nicht nur, Objekte zu erwerben, sondern Verbindungen zu Künstler:innen, ihren Geschichten und dem kulturellen Kontext aufzubauen. Scheuen Sie keine Risiken, und lassen Sie Ihre Sammlung mit Ihnen wachsen. Vor allem sollte Ihre Sammlung ein Spiegel Ihrer eigenen Reise sein – sie sollte zum Nachdenken anregen, Neugier wecken und mit Ihren Leidenschaften wachsen.
Fotos: Natalia Poniatowska / Borowik Foundation Archive
© 2024, Borowik Foundation, Warschau, PL